Dieter   Beese

Ev. Theologie

Zum Rücktritt von Annette Kurschus

Am Montag, den 20. November 2023 ist Frau Annette Kurschus von ihren Ämtern als Vorsitzende des Rates der EKD und als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen zurückgetreten.


Ich halte es für angezeigt, den Sachstand der Angelegenheit, wie ihn das nebenamtliche Mitglied der Kirchenleitung von Westfalen, Prof. Dr. Traugott Jähnichen, an die Öffentlichkeit gegeben hat, hier wiederzugeben:


Sachstand zum Rücktritt der ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD und Präses der EKvW Annette Kurschus von Prof. Dr. Traugott Jähnichen (20. November 2023):


"Unmittelbar nach einer zunächst anonymisierten Mitteilung im Februar 2023 und des Berichts eines ersten Betroffenen im März 2023 bei der Meldestelle für sexualisierte Gewalt der EKvW haben die EKvW und der Kirchenkreis Siegen unmittelbar Interventions- bzw. Begleitteams gebildet, welche dem Betroffenen und seiner Anzeige Glauben geschenkt haben und daher sofort aktiv geworden sind. Der Siegener Superintendent hat dementsprechend die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Siegen mitgeteilt, die seither (rund ein dreiviertel Jahr) ermittelt. Die kircheninternen Teams sind in engem Austausch, auch mit dem bzw. nunmehr den Betroffenen. Präses Annette Kurschus hat uns im März in einer Sondersitzung der Kirchenleitung über diesen Fall und ihre persönliche – nicht dienstliche! – Nähe zu dem Beschuldigten informiert, weshalb sie sich im Blick auf die Arbeit der kircheninternen Teams zurückgezogen hat, um jeden Anschein einer Einflussnahme zu unterbinden. Ungeachtet dessen sind alle notwendigen Maßnahmen zur Unterstützung der Betroffenen und der Aufarbeitung der Sachlage getroffen worden. Parallel zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, deren Abschluss nicht deutlich erkennbar ist, wird, unabhängig von der Staatsanwaltschaft und natürlich auch, falls diese keine Anklage erheben sollte, eine von der EKvW im Grundsatz im September beschlossene externe Bearbeitung des Falls im Blick auf kirchliche Konsequenzen und ggf. disziplinarrechtliche Prüfungen seitens der EKvW erfolgen. Zudem haben die Betroffenen selbstverständlich die Möglichkeit, Anerkennungsleistungen zu beantragen, die in der EKvW (gemeinsam in Gremien mit der EKiR und der lippischen Landeskirche) seit rund drei Jahren individualisiert ermöglicht sind."


Der weiteren Einschätzung von Herrn Kollegen Jähnichen schließe ich mich, der ich Person und Arbeitsweise von Annette Kurschus aus vielen Jahren der Zusammenarbeit mit ihr kenne, vollinhaltlich an:


"Dass in einer Meldung auf der homepage des WDR vom 17.11. 2023 die Synodenpräses, Frau Heinrich, mit der Bemerkung zitiert wird, sie 'gehe davon aus, dass alles daran gesetzt wird, die Betroffenen im Blick zu haben und den notwendigen Raum für die weitere Aufarbeitung des Falles und des Umgangs mit ihm zu gewährleisten. Die Landeskirche in Westfalen steht in der hohen Verantwortung, dieses sicher zu stellen', ist m.E. eine zumindest sehr unglückliche Formulierung, da auf diese Weise die Annahme im Raum steht, dies geschehe eher nicht. Dieser – möglicherweise nicht gewollte, aber auch nicht abzuweisende – Eindruck befremdet mich.

In Teilen ist die mediale Berichterstattung wenig sachgemäß und in einzelnen Fällen vorverurteilend gewesen. Dabei ist mit Unterstellungen und Suggestivfragen gearbeitet worden, etwa ob die Präses einen „Missbrauchstäter“ deckt – dies beinhaltet eine unzulässige Vorverurteilung und muss zumindest im Blick auf den aktuellen Ermittlungsstand als eine unzutreffende Sachstandseinschätzung eingestuft werden. 

Wenn sich zudem Experten wie der katholische Kirchenrechtler Schüller ohne nähere Sachkenntnis zu dem Urteil berufen fühlen, dass die EKvW-Präses und EKD-Ratsvorsitzende einen weder sachlich noch menschlich angemessenen Umgang gezeigt habe und auch in der evangelischen Kirche die Institution über die Nähe zu den Betroffenen steht, dann halte ich diese Art der Verurteilung fern einer nachvollziehbaren Kenntnis des Falls, für völlig unsachgemäß und sogar rufschädigend.

Dass sich der Betroffenenbeirat der EKD vor dem Hintergrund der „aktuelle(n) Berichterstattung“ Fragen im Blick auf die Glaubwürdigkeit der Präses/Ratsvorsitzenden zum Ausdruck bringt, kann ich sehr gut nachvollziehen. Leider hat angesichts der Neubildung des Betroffenenbeirats offenkundig die Zeit gefehlt, um ein belastbares Vertrauensverhältnis zwischen dem Gremium und der ehemaligen Ratsvorsitzenden aufzubauen.

Ich bin davon überzeugt, dass Annette Kurschus nach der geplanten externen Aufarbeitung des Falls vollständig rehabilitiert sein wird. Ich danke ihr persönlich für die langjährige sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit und vor allem für ihre geistlich inspirierende Leitung. Es ist schwer zu ermessen, welchem Druck sie nicht nur in den letzten Tagen, sondern bereits in den letzten Wochen und Monaten standhalten musste, und dabei exzellent ihre Amtsführung ausübte. 

Ich wünsche ihr für die kommende Zeit viel Kraft, um ihre außerordentlichen Gaben in der ein oder anderen Weise in den Dienst der Kirche stellten zu können."


Aus meiner persönlichen Sicht möchte ich hinzufügen:

Spätestens seit ihrer Predigt im Kölner Dom aus Anlass des Flugzeugabsturzes der German-Wings-Maschine über den Französischen Alpen, war öffentlich sichtbar und erkennbar, wie sehr Annette Kurschus ihre Haltungen und Aussagen aus der theologischen Mitte des christlichen Glaubens gewinnt. Die innere Unabhängigkeit, die sie darin unter Beweis stellte, hat sie immer wieder in ihren geistlichen Worten und gesellschaftlichen Stellungnahmen konkretisiert.

Sie hat sich damit stets wohltuend abgehoben von dem in weiten Kreisen der Öffentlichkeit zu Recht kritisierten politischen Moralismus und Aktivismus, der sich in der evangelischen Kirche zu deren Schaden ausgebreitet hat. Zugleich hat sie auch die ethischen Konsequenzen, die sich aus dem Glauben ergeben, entfaltet und nicht etwa einem Rückzug in die fromme Innerlichkeit das Wort geredet. Auch wer ihren politischen Positionen begründeter Weise nicht zustimmen wollte, konnte ihren Interventionen immer abspüren, dass sie diese aus guten Gründen und mit geschärftem Gewissen in die Öffentlichkeit trug. Insbesondere ihre Gewissensmahnung in der Flüchtlingsfrage und zum Ukrainekrieg ergaben sich, so sehr sie damit auch Anstoß erregt haben mag - und dies ist nicht das schlechteste Zeugnis, das evangelischer Verkündigung ausgestellt werden kann -  stets aus einem aufmerksamen Hören auf das Zeugnis der heiligen Schrift und einer eigenverantwortlichen gegenwartsbezogenen Auslegung im Lichte ihres reformierten Bekenntnisses.

Den verantwortlichen Personen und Gremien vor Ort in der Öffentlichkeit sowie in der EKD und der EKvW ist zu wünschen, dass sie aus den Vorgängen, die schließlich zum Rücktritt von Annette Kurschus geführt haben, das Notwendige lernen und zu Entscheidungen finden, die der Sache des Evangeliums und den Menschen, an die sie gerichtet ist, dienen.